Sonntag, 11. November 2012

11.11.2012 - Rilke und Santissima Annunziata

Florenzer Tagebuch (Rainer Maria Rilke)

Rainer Maria Rilke war 1898 für ein paar Wochen in Florenz. Er war 23 Jahre alt und in die damals 37jährige Lou Andreas-Salomé verliebt, die er mit Berichten und Reflexionen über seinen Aufenthalt in Florenz, mitunter erst später niedergeschrieben, imponieren wollte. Leider kommen die Berichte über die Kirchen etwas zu kurz. Die Gemütsverfassung des jungen Rilke und der sanfte Frühling in Florenz passen wunderbar. Er erlebt die Kunst der Stadt intensiv.

Und soll ich dir sagen, wie mein Tag verrollt?
Früh zieh ich durch die strahlende Viale
zu den Palästen, drin ich wachsend prahle,
und mische mich auf freier Piazzale
ins braune Volk, wo es am tollsten tollt.

Nachmittags bete ich im Bildersaale,
und die Madonnen sind so hell und hold.
Und komm ich später aus der Kathedrale,
ist schon der Abend überm Arnotale,
und ich bin leis und langsam müd und male
mir Gott in Gold ....

Florenz, 18. April 1898 

Rilke erkennt schnell, dass es keinen Sinn macht, in seinem Tagebuch das zu wiederholen, was in den Reiseführern geschrieben steht. Das war klug und er nimmt die Herausforderung der Stadt an, um über Kunst, Künstler und Kunstwerk zu philosophieren. So bleibt er originell und langweilt seine Freundin nicht mit Kirchenbeschreibungen. Rilke wohnte am Lungarno Serristori unweit vom Ponte delle Grazie, im dritten Stock.

Hier seine Meinung zu den Touristen der damaligen Zeit, was wohl heute noch immer gilt:

".... In Italien laufen sie blind an tausend leisen Schönheiten vorbei zu jenen offiziellen Sehenswürdigkeiten hin, die sie doch meistens nur enttäuschen, weil sie, statt irgendein Verhältnis zu den Dingen zu gewinnen, nur den Abstand merken zwischen ihrer verdrießlichen Hast und dem feierlich-pedantischen Urteil des Kunstgeschichtsprofessors, welches der Baedeker ehrfurchtsvoll gedruckt verzeichnet. ..." (S. 25)

Die Geburt Mariä - Fresken von Domenico Ghirlandaio und Andrea del Sarto

Erwähnung bei Rilke findet das wohl bekannteste Fresko von Domenico Ghirlandaio in der Kirche Santa Maria Novella in der Nähe des Bahnhofs gleichen Namens.

"... In Santa Maria Novella vollends in den alten bequemen Chorherrenbänken unter den Ghirlandajos länger noch bleiben, ohne zu lesen. Diese Fresken erschienen mir als Ghirlandajos liebenswürdigste Arbeit: Novellenbilder im vollsten Sinn. Lapidare Illustrationen der Geschichte der Maria. Rechts unten: das bekannt Fresko, die Geburt der Maria darstellen. Die Wehestube einer edlen Florentiner Dame, .....

Domenico Ghirlandaio: Die Geburt Mariä (um 1490) in Santa Maria Novella, Florenz
.... ähnlich wie auf der Darstellung des Andrea del Sarto in der Vorhalle der Santissima Annunziata, breit und mit Geduld erzählt, so wie alte Leute tun, die am liebsten immer wieder von vorn anfangen möchten. Etwas geschwätzig durch die vielen müßigen Frauen, die ziemlich gleichgültig in den Raum der Chornische heraussehen und durch die Absicht des Malers, möglichst viel Florentiner Schönen durch diese Verewigung zu schmeicheln, bedingt.


Andrea del Sarto, Geburt Mariä (ca. 1513-14) im Chiostrino dei Voti der SS. Annunziata, Florenz
Damals - glaube ich - empfand man schon ein bedeutendes Hemmnis in diesem Erzählenmüssen lang bekannter alter Geschichten, und man mochte auch schon fühlen, wie unmalerisch es doch eigentlich sei, immer wieder Handlung statt Situation, Ereignis statt Ereignismöglichkeit bieten zu sollen. Man suchte sich an den Porträts, welche man als werte und vornehme Aufgabe erkannt hatte, einigermaßen schadlos zu halten und betonte diese neben der Architektur und den jungen Errungenschaften der Linearperspektive weit über den Vorgang hinaus, wie um bei einer anderen Zeit sich zu rechtfertigen. Diese Art hat etwas von dem Meinetwegen-Achselzucken des Untergebenen hinter dem Rücken des Herrn: 'Wenn er es denn schon mal nicht anders will!'" (S. 51).

Und Rilke hatte Recht. Ghirlandaio verewigte Ludovica Tornabuoni, Tochter des Auftraggebers, die den Zug der Jungrauen anführt und im Profil dargestellt ist. Dahinter weitere Verwandte der Tornabuoni. Bei dem Fresko von Andrea del Sarto gibt es wilde Vermutungen. Doch darüber später.

Die Zitate stammen aus: R.M. Rilke, Florentiner Tagebuch, insel taschenbuch, 1994
 


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